Wir kamen mit Vorbehalten.
Woher sie genau kamen, wissen wir nicht. Vielleicht aus alten Erzählungen unserer Eltern, vielleicht aus diesem diffusen Gefühl, das viele Deutsche mit dem Wort „Osten“ verbinden – ein Rest von Distanz, ein unbestimmtes Misstrauen.
Und dann waren wir dort – und sahen ein Land, das uns überraschte. Polen ist nicht grau, nicht rückständig, nicht stehen geblieben in der Vergangenheit. Es ist ein Land, das Narben trägt – gezeichnet von Kriegen, Teilungen, Verlusten – und das sich dennoch aus den Belastungen der Geschichte befreit hat. Lebendig, freundlich, pragmatisch – und in vielem erstaunlich vertraut. In den Straßen der Städte, in den Gesichtern der Menschen, in der Art, wie gearbeitet und gelebt wird, schwingt etwas mit, das uns an das Deutschland unserer Kindheit erinnerte.
Wir haben auf unserer Reise die großen Städte bewusst außen vorgelassen. Um Warschau machten wir einen Bogen, Białystok umfuhren wir auf der Ringautobahn, und auch an Breslau und anderen Zentren sind wir vorbeigefahren. Uns interessierte das Leben in der Fläche – dort, wo die Menschen „normal“ leben, arbeiten, ihre Kinder großziehen. Gerade der Osten Polens, den wir bereisten, gilt als der eher arme Teil des Landes. Und doch spürten wir dort eine stille Würde, eine Form von Zufriedenheit, die nicht aus Wohlstand entsteht, sondern aus Verwurzelung.
Die Dörfer sind gepflegt, die Häuser ordentlich, und überall entstehen kleine Betriebe – vom Schreiner bis zum Metallbauer, vom Laden bis zur Werkstatt. Man spürt diesen Willen, selbst etwas zu schaffen. Besonders auffällig sind die vielen Autowerkstätten\: Sie stehen sinnbildlich für eine Haltung, die hier noch lebendig ist – man wirft nicht einfach weg, man repariert, was zu reparieren ist. Überhaupt hat man das Gefühl, hier wird noch gemacht, nicht nur geredet. Kein Übermaß an Selbstdarstellung, kein Dauerrauschen von Werbung und Empörung. Stattdessen: eine ruhige, fast unauffällige Normalität, die wohltuend wirkt.
Auch das Gesellschaftsbild scheint vertraut – aber aus einer anderen Zeit, aus einer Zeit, als wir unsere Jugend verbrachten. Migration ist kaum sichtbar, in jedem Fall in deutlich geringerem Maß als bei uns. Das öffentliche Leben wirkt homogener, weniger aufgeregt, geerdeter. Manches, was bei uns längst zum Alltag gehört – schrille Selbstinszenierungen, Empörungstheater, modische Überkorrektheit – spielt hier kaum eine Rolle. Die Kirche ist präsent, die Familie wichtig, und sonntags füllen sich die Gotteshäuser – nicht aus Pflichtgefühl, sondern aus Überzeugung. Man spürt, dass dieses Land seine Wurzeln nicht verloren hat.
Dabei begegneten wir auch Haltungen, die aus westeuropäischer und insbesondere deutscher Sicht irritieren können. In manchen Städten und Gemeinden bezeichnen sich Kommunen ganz offen als „LGBT-frei“. Das wirkt auf uns schroff und befremdlich – und doch spürt man, dass dahinter nicht Hass, sondern Abgrenzung steht: der Versuch, eine traditionelle Ordnung gegen das zu behaupten, was man als überzogene gesellschaftliche Umbrüche empfindet. Wir können diese Haltung vielleicht nicht teilen, aber wir verstehen, woher sie kommt: aus dem Wunsch, Stabilität zu bewahren in einer Zeit, in der vieles ins Rutschen geraten ist.
Natürlich hat diese Verwurzelung auch ihre Schattenseiten. Tradition kann eng machen, Gemeinschaft kann ausschließen. Aber zugleich ist da eine Erdung, die hierzulande bereits unwiederbringlich verloren gegangen ist. Eine Vorstellung davon, was ein gutes Leben ist – nicht perfekt, nicht modernistisch durchgeplant, sondern getragen von Verantwortung, Zusammenhalt und Arbeitsethos.
Besonders in Erinnerung blieb uns ein Gespräch mit Elisabeth, der Betreiberin des kleinen Campingplatzes in Pawłowy. Sie hatte viele Jahre in Deutschland gearbeitet – wie so viele – und war schließlich zurückgegangen. Wir unterhielten uns in ihrer Bar: „Ich habe mich dort irgendwann nicht mehr wohlgefühlt“, sagte sie. „Alles ist angespannt und überreguliert. Die Leute haben Angst, Fehler zu machen und machen dann lieber gar nichts. Hier ist das Leben einfacher. Man kann noch atmen.“
Auch andere, mit denen wir unterwegs ins Gespräch kamen, schütteln über Deutschland den Kopf – über ein Land, das sich selbst zu verlieren scheint, während Polen gerade beginnt, seinen Platz neu zu finden.
Polen - ein Land im Aufbruch
Und tatsächlich: Überall spürten wir Aufbruch. Neue Straßen, junge Unternehmen, modernisierte Dörfer. Eine Generation, die nach vorn schaut. Der Optimismus, der in Deutschland gerade verblasst, ist hier lebendig. Polen ist längst kein „Nachzügler“ mehr – im Gegenteil: Es beginnt, Deutschland in manchem den Rang abzulaufen.
Die Fakten untermauern diesen Eindruck: Das polnische Wirtschaftswachstum liegt seit Jahren über dem EU-Durchschnitt – 2024 bei rund 2,9 %, für 2025 prognostiziert die OECD sogar 3,4 %. Die Arbeitslosenquote beträgt lediglich 5,5 %, die Erwerbstätigenquote liegt bei 72,6 %, und die Direktinvestitionen summieren sich auf etwa 259 Milliarden Euro. Dazu kommen stabile Staatsfinanzen, eine hohe Eigenheimquote und ein bemerkenswert ausgeprägter Unternehmergeist.
Auch international wird Polen zunehmend als wirtschaftlicher Motor wahrgenommen. Investoren schätzen die stabile politische Lage, die qualifizierten Arbeitskräfte und den Modernisierungsschub des Landes. Selbst in der Klimapolitik zeigt sich Bewegung: Laut einer Weltbank-Studie könnte der Übergang zu einer klimaneutralen Wirtschaft Polens BIP bis 2050 um weitere 4 % steigern.
Während Deutschland über Bürokratie, Fachkräftemangel und Strukturmüdigkeit klagt, wächst in Polen etwas, das dort kaum jemand verloren hat: Zuversicht. Ein Selbstbewusstsein, das nicht laut auftritt, sondern aus Arbeit, Stolz und Fortschritt erwächst.
Das alte, arme und vielleicht rückständige Polen gibt es nicht mehr. Man merkt das auch daran, dass immer weniger Polinnen und Polen nach Deutschland kommen, um dort zu arbeiten. Viele, die einst ausgewandert waren, kehren zurück – und investieren ihre Erfahrung und ihr Geld in die eigene Heimat. Im Gegenteil: Mittlerweile zieht es zunehmend Deutsche nach Polen – der günstigeren Lebenshaltungskosten wegen, wegen der Lebensqualität und oft auch, weil sie hier eine Aufbruchstimmung spüren, die sie zu Hause vermissen.
Nachbemerkung
Unsere Reise führte uns durch den Osten des Landes – von der Grenze entlang der sogenannten Suwalki-Lücke südwärts, vorbei an den Masuren, die wir westlich liegen ließen, durch die stillen Landschaften Podlachiens und an Białystok vorbei bis hinunter nach Lublin und durch Schlesien. Wir durchfuhren ein Land, in dem man etwas bewegen will – ohne viel Aufhebens, ohne Jammern. Als wir die Grenze verließen, blieb dieses Gefühl:
Polen ist kein Land der Nostalgie, sondern eines im Aufbruch. Ein Land, das gerade entdeckt, dass Zukunft nicht dort entsteht, wo man sich neu erfindet – sondern dort, wo man an sich glaubt.
